Experimentelle Geschichte und Prognosen stellen

Geschichte fasziniert. Gesellschaften durchleben ständig ähnlich wiederkehrende Entwicklungen. Durch Mustererkennung und Interpretation versuche ich historische Fragestellungen auch für die Zukunft zu beantworten. Doch wie zuverlässig können Analysen und Prognosen auf der Basis von wiederkehrenden Mustern sein? 

Die originalgetreue Nachbildung von Mittelalter-Gegenständen ist nicht nur aufschlussreich, sie festigt auch den Respekt für das vohandene Wissen der damaligen Zeit. Mit einer Teilnahme am Appenzeller Mittelaltermarkt war ich motiviert, Pergament und Farben nach mittelalterlichen Rezepten herzustellen.

Aus der Geschichte lässt sich vieles lernen. Wenn wir die Entwicklungen der heutigen Zeit betrachten, kann leicht der Eindruck entstehen: Wir lernen wenig oder gar nichts. Doch stimmt diese Einschätzung?

Joseph Fritsche

Geschichte, Prognose & Pergament

Wir treffen täglich Entscheidungen, bei denen es darauf ankommt, die Zukunft abzuschätzen. Sei es bei der Berufs- oder Partnerwahl, bei Finanzgeschäften oder beim Strasse überqueren. Vieles läuft in Mustern ab.

Muster-Erkennung heute

Oft heisst es, wer die Zukunft verstehen will, muss zuerst die Vergangenheit erkennen. In der Regel versuchen Historiker unsichere Prognosen zu vermeiden. Denn Prognose-Risiken könnten zu Reputationsverlust führen.

Die Suche nach Mustern in der Vergangenheit ist verbreitet. 

Effektiv geht es darum, tragfähige Muster zu erkennen, mit denen heutige Unsichtbarkeiten für die Zukunft sichtbar gemacht werden können. Dabei gilt es vor allem Wahrscheinlichkeiten abzuschätzen. Interessant ist dieser Aspekt für Journalisten, Politiker, Finanzanalysten, Geheimdienste und Führungskräfte, welche in komplexer Situation die Zukunft vorausahnen und beurteilen müssen.

Komplexes Umfeld

In einem komplexen Umfeld spielen viele Faktoren und Variablen eine Rolle. Auswirkungen sind nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Eine Festlegung auf einzelne Variablen kann dabei den Blick für die Zukunft verstellen. Denkfehler können sich leicht einschleichen, wie eine Festlegung auf vorgefasste Haltungen, Denkmodelle oder einseitige Datenquellen. 

Schliesslich geben wir uns mit einer stimmigen Analyse oder Prognose zufrieden.

Die Menge der Daten, die auch dank der KI zur Verfügung stehen, ist schlichtweg umwerfend. Dieser Zugang ist für Historiker eine enorme Bereicherung.

Diszipliniertes Vorgehen

Ein gutes Konzept hat das Start-up Bluepol Gmbh entwickelt. Mit einer sorgfältigen Analyse von Antreibern und der Vermeidung von Denkfehlern wird ein Paradigma-Wechsel gepflegt. Das Analyse- und Prognosewerkzeug berücksichtigt unterschiedliche Sichtweisen, wie die der angelsächsischen, europäischen oder chinesischen Sicht. Dazu gehört auch eine parteipolitisch beeinflusste Herangehensweise.

Daten sammeln, ordnen und neue Ideen finden

Eine gute Prognose bedeutet viel Arbeit, Erfahrung, gesunde Skepsis und die Bereitschaft, sich mit Detail-Fragen auseinanderzusetzen. Dabei kann die Künstliche Intelligenz KI eine willkommene Unterstützung bieten.

Finanzmärkte mit Prognosequalität

Börsen spiegeln eine Sicht der Wirtschaft und der Politik auf die Zukunft. Dazu gehören auch viele Facetten des technischen Fortschritts. In einem halbwegs effizienten Verfahren werden von den Investoren mit ihren Finanzentscheiden ständig Prognosen für die Zukunft abgegeben. Die erfahrungsgemäss grossen Preisschwankungen der Investitionen zeigen aber auch, dass sich die Investoren über die Zukunft gar nicht einig sind.

Rezessionen und Finanzkrisen

Rezessionen und politische Konflikte laufen in ähnlich wiederkehrenden Mustern ab. Neben wenigen Konstanten (u.a. die Verschuldungssituation) gibt es viele Unterschiede zu beachten, welche die zukünftige Einschätzung der Qualität einer Krise, deren Dauer und deren Ablauf erschweren.

Prognose der Kipp-Punkte

In einem komplexen Kontext ist es schwierig, Kipp-Punkte vorauszusagen. Das Bonmot ‚Von zehn gefühlten Katastrophen findet nur eine statt‘ bekommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung. 

Eine starke psychologische Komponente bleibt der ständige Begleiter des Prognosestellers.

In einem komplexen Umfeld spielen viele Variablen und Faktoren eine Rolle. Auswirkungen sind nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Auch hier können sich leicht Denkfehler einschleichen. Vorgefasste Haltungen, eingeübte Denkmodelle, einseitige Datenquellen und schlüssige Kausalketten sind bewusst zu vermeiden.

Unser Gehirn ist erfahrungsmässig geübt, den einfachsten Weg zu denken. Dies gilt auch für die Einschätzung von Kippunkten. 

Die pessimistische Aussage des Murphy’s Law findet eine verbreitete Beachtung: Was schief gehen kann, kann schief gehen. 

Der optimistische Gegenspieler hält zu recht dagegen: Was funktionieren kann, kann auch funktionieren. Es lohnt, die Zukunft erfahrungsgemäss eher optimistisch einzuschätzen, denn die Selbstheilungskräfte werden oft unterschätzt.

Experimentelle Geschichte: Pergament-Herstellung

Experimentelle Geschichte macht Geschichte praktisch erfahrbar. Gegenstände des Mittelalters werden mit den Mitteln und Fertigkeiten der damaligen Zeit nachgebaut. 

Das Verständnis des Pergament-Herstellungsprozesses stand im Mittelpunkt. Welche Ergebnisse waren zu erwarten?

Haben Sie schon einmal eine fein gearbeitete Pergament-Seite in Händen gehabt? 

Sie werden dieses Gefühl nie vergessen. Mittelalterlichen Büchern mit dieser Pergamentqualität werden sie in der Stiftsbibliothek von St.Gallen zu sehen bekommen.

Der wichtigste Beschreibstoff des frühen Mittelalters war das Pergament. Als Ausgangsmaterial diente die Haut von Tieren, meist Kalb, Schaf oder Ziege.

In einem ersten Schritt wird die frisch abgezogene Haut für 4-7 Wochen in eine Kalklauge gelegt z.B. in Grubenkalk. Hydraulischer Kalk eignet sich nicht. Dank dieses Äscherungsprozesses können Haare, Fett- und Fleischreste leicht entfernt werden.

Nach der Äscherung wird die Haut vor und nach dem Abschabeprozess mit klarem Wasser gewässert, um Kalkreste zu entfernen. Trocknet die Haut in diesem Zustand, würde sich diese schnell zusammenziehen, und es wäre nicht mehr möglich, gutes Pergament herzustellen.

Die vom Wasser aufgedunsene Haut wird mit einem Holzschaber von allen Haarresten befreit und anschliessend in einen festen Rahmen gespannt. Die Haut sollte immer wieder nachgespannt werden. Der Zug, der auf die Schenkel des Rahmens wirkt, kann bei einer Kalbshaut bis zu einer Tonne ausmachen.

Dies stellt vor allem hohe Anforderungen an die Befestigungsklammern. Um die Verbindung zwischen Spannschnur und Fell herzustellen, wurden im Mittelalter kleine Holzkeile oder mit Schnüren befestigte Steine in die Haut gearbeitet. Im Versuch hat dies gut funktioniert. Heute finden Eisen- oder Aluminiumklammern ihre Anwendung. 

Noch im halbnassen bis trockenen Zustand werden mit einem Schabmesser auf der Fleischseite vorsichtig die letzten Fettreste weggeschabt. Die Verwendung der nachgebauten Schabmesser hat mässige bis gute Ergebnisse gebracht.

Die gespannte Haut trocknet innerhalb weniger Tage. Die Haut ist nun wesentlich dünner geworden, da die grosse Wassermenge, die während des Kalkbades eingelagert wurde, verdunstet oder herausgepresst worden ist. Jetzt wird das Pergament auf die gewünschte Stärke, die einen Bruchteil eines Millimeters ausmachen kann, sorgfältig abgeschliffen. Als Schleifmittel dienen Bims- oder Sandstein, Schulp (Skelett des Tintenfisches) oder gemahlener Muschelkalk. Die Schleifmittel waren nicht einfach zu handhaben, es war schwierig, mit dem Schulp zu hantieren.

Im Versuch sind verschiedene Schleif-Schäden aufgetreten. Unregelmässigkeiten waren kaum zu vermeiden. Ein weiteres Problem war, dass sich die gespannte Haut beim Schleifvorgang gebogen hat.

Damit das Pergament die Tinte besser aufnehmen kann, wurde Weizenstärke oder eine dünne Eiweiss-Schicht aufgetragen. Fettige Stellen konnten mit Kreidepulver nachgebessert werden. Die Eisen-Gallustinte hat gut funktioniert, etwas schwieriger war die Anwendung von Russtinte.

Pergament als Beschreibstoff war und ist auch heute sehr aufwändig herzustellen und entsprechend teuer. Für ein grösseres Buch wie z.B. eine Bibel wurden bis zu 500 Schafhäute verarbeitet.

Ende des 13.Jahrhunderts wurde in Italien die erste europäische Papiermühle gebaut, und das Papier setzte sich im 14./15.Jahrhundert immer mehr durch. Diese Entwicklung wurde durch die aufkommende Buchdruckerkunst, die auf billiges und rasch herstellbares Papier angewiesen war, stark beschleunigt. Die Pergamentherstellung hat in der Folge rasch an Bedeutung verloren.

Für die Herstellung einer hohen Pergament-Qualität müssen alle Phasen der Herstellung beachtet werden.

Ausgangsmaterial

Es ist wichtig, dass die Haut möglichst frisch und unverletzt dem Pergamenter zur Verfügung steht. Dornenverletzungen, Blutergüsse und Schnitte beim Abziehen der Haut durch den Metzger können zu Rissen, Löchern und Schwachstellen führen. Diese Schäden können an ihren Rändern verhornen. Der Versuch, Kalbshäute zu spalten und diese zu Pergament zu verarbeiten, hat nicht funktioniert.

In der Literatur wurde als Ausgangsmaterial auch von Schweinehäuten gesprochen. Dabei dürfte es sich um Wildschweine-Häute gehandelt haben, die weniger Fett enthalten. Im Versuch liess sich die aufgedunsene Schweine-Haut zudem kaum spannen.

Äscherungsprozess

Im Gegensatz zum Leder-Gerbprozess waren die Geruchsemissionen beim Pergament relativ erträglich. Die stark ätzende Kalklauge hat die meisten Geruchspartikel in Schach gehalten.

Schleiftechnik und Pergament-Qualität

Ein gleichmässiges Schleifergebnis gehört zu den wichtigsten Kernkompetenzen eines guten Pergamenters. Dünne Wandstärken konnten wohl nur von den versiertesten Kunsthandwerkern erreicht werden, während die gröberen Arbeiten anderen überlassen wurde.

Schnitte und Risse können noch im nassen Zustand mit einer Nadel und einem starken Faden zugenäht werden. Dadurch kann die Haut in der ganzen Oberfläche besser gespannt und nachher abgeschliffen werden. Diese Flickstellen finden sich in vielen Büchern.

Pergament für den Alltagsgebrauch

Rohpergament mit mässiger Qualität ist leicht herzustellen. Die Haut kann mit Nägeln in einem Türrahmen befestigt, getrocknet, abgeschabt und auch geschliffen werden.

Eine Anwendung war ein Behältnis für Flüssigkeiten. Man könnte dieses auch als «Plastiksack» des Mittelalters bezeichnen. Obschon die trockene Pergamenthaut durch die Flüssigkeit aufgeweicht wird, bleibt der Sack für eine längere Zeit dicht.

Pergament-Säckchen als Gefäss für Tinte

Tinte trocknet schnell und kann aber auch mit z.B. Rotwein wieder flüssig gemacht werden. 

Als Gefäss eignet sich ein Pergament-Säckchen. Aus diesem können die hohlen Kuhhörner, welche als Tintenbehältnis dienten, mit neuer Tinte aufgefüllt werden. 

Im Versuch wurde ein Stein in ein feuchtes und geschliffenes Pergament eingewickelt, getrocknet und vernäht.

Gutes Pergament war teuer

Die Oberflächen von beschriebenen Pergamentseiten wurden oft mehrmals abgekratzt, abgeschliffen und wiederverwendet (Palimpseste). Ursprünglich dünne Pergamentseiten eignen sich nicht dafür.

Theorie und Praxis – es gibt Unterschiede

Wer im Internet oder in der Literatur über den Herstellungsprozess von Pergament eine Anleitung sucht, der kann auf eine ganze Reihe von nicht zutreffenden Informationen stossen. Hier zeigt sich ein Vorteil der experimentellen Geschichte.

  • Der dazu notwendige Kalk ist Grubenkalk, ein ungelöschter Kalk, der sehr laugenhaltig ist. Maurer-Kalk und hydraulischer Kalk eignen sich nicht.
  • Die Kalkbrühe riecht in der Regel weit weniger stark als die gewöhnungsbedürftige Flüssigkeit, die fürs Gerben verwendet wird. Unterschiede zwischen dem Äscher- und Gerbvorgang werden manchmal vermischt.
  • Das Haar lässt sich nach einer Woche Kalkbad mit einem glatten Holzscheit aus der Haut lösen. Dazu braucht es keinen Degen oder ein  Schabwerkzeug.
  • Die meisten kleinen Löcher im Pergament sind verhornte Löcher, welche durch Dornenverletzungen oder beim Schlachtvorgang entstanden sind. Diese Löcher sind nicht auf Insektenfrass zurückzuführen.

Experimentelle Geschichte: Herstellung mineralischer Farben

Der Ausgangspunkt und Motivation für dieses Experiment war der Fund der möglicherweise aus dem 16.Jh. stammenden Bildtafeln von «vier Engelsköpfchen», zugeschrieben dem Maler Caspar Hagenbuch (1525–79).

Wie hat man im Mittelalter mineralische Farben hergestellt, lichtecht und lange haltbar? Welche Ergebnisse waren zu erwarten?

Kalk, Eisenoxyd, Limonit, Pyrit, Hämatit und Glaukonit

Für die Künstler war in dieser Zeit nur eine beschränkte Auswahl von farbechten Farben erhältlich. Es boten sich die mineralischen Farben Rot (Nummuliten-Kalk, Eisenoxyd), gelb (Limonit, Eisenoxyd), schwarz (Pyrit), violett (Hämatit), weiss (Kalk) und grün (Glaukonit) an. 

Diese Mineralien kommen im Alpstein vor, wobei Hämatit und Glaukonit selten anzutreffen sind. Nummoliten-Kalk findet sich im Sitter Bachbett, das Limonit auf dem Sattel der Agateplatte. 

Mit Leinöl wurden Farbexperimente durchgeführt. Das Ergebnis wurde mit den auf Holz gemalten Engelsköpfchen verglichen. Die Übereinstimmung war markant.

Die beiden abgebildeten Engelsköpfchen wurden im Haus Tschölis an der alten Weissbadstrasse 2 (Baujahr 1561) gefunden. Diese werden dem damaligen Fresken- und Altarbildmaler Caspar Hagenbuch (1525-79) zugeschrieben, bekannt auch durch die Wandmalereien im Rathaus Appenzell.

Experimentelle Geschichte: Mittelalterliche Schreibstube

Ein Verfasser von mittelalterlichen Texten hat neben dem Schreibstoff Pergament verschiedene Schreib-Utensilien verwendet: Gänsekiel, Eisengallus- oder Russtinte, Schabwerkzeuge und vieles mehr.

Aus historischen Quellen sind einige Hinweise und Anleitungen zur Herstellung überliefert. Es galt, sich für eine Technik zu entscheiden und ein brauchbares Ergebnis zu erzielen. 

Die Gegenstände der Pergamentherstellung und die Utensilien zur Schreibstube stehen für eine mögliche Ausstellung zur Verfügung. 

Oral History - Leben in Zeiten des Mangels

Oral History ist eine Methode der Geschichtsschreibung. Mit Zeitzeugen-Interviews werden Erlebnisse, Erfahrungen und Ansichten zu historischen Ereignissen gesammelt und bewertet. Um die Erinnerungen an diese Zeiten zu bewahren, wurden aus Appenzell 40 Personen zu den 1930er und 1940er Jahren befragt. 

Die Fragestellung lautete: Wie hat die Bevölkerung die Zeit des grossen Mangels und der Umwälzungen bewältigt? Welche Beschäftigungsmöglichkeiten waren vorhanden?

In der Oral History geht es darum, über spezifische Fragen subjektive Erinnerungen und Interpretationen abzufragen. 

Erinnerungen können sich über die Zeit verändern oder werden mit Zeitgeschehen aus einer anderen Zeit vermischt. 

Lokal-, Milieu- und Alltagsgeschichten reflektieren persönliche Strategien, wie Herausforderungen der Zeit bewältigt worden sind. Dieser Erfahrungshintergrund ergänzt klassische, schriftliche Quellen.

Angesichts der Verwerfungen an den Finanzmärkten in den Jahren 2000 bis 2004 sind verschiedene Einschätzungen von Journalisten und Analysten publiziert worden, mit dem Resultat, dies könnte der Anfang einer vergleichbaren Phase wie in den Dreissiger Jahren sein. In dieser Zeit habe ich mit vierzig Zeitzeugen gesprochen, welche diese Zeit noch als Kinder oder junge Erwachsene miterlebt haben. Die Frage stellte sich: Gibt es heute Parallelen zu früheren Zeiten.

Oral History: Appenzell

Wie haben die verschiedenen Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen die Krisen bewältigt? Wie wurde diese Zeit erlebt? Wie haben sich die Bewohner auf die Mangelwirtschaft und die gesellschaftlichen Veränderungen eingestellt? Können wir etwas aus dieser Zeit für unsere zukünftige Entwicklung mitnehmen?

Für die meisten Interviewpartner stand die Mangelwirtschaft im Vordergrund. Die Armut der Dreissiger Jahre, die bis in die 50-er Jahre andauerte, war vor allem im Dorf und auch auf dem Land für die meisten Einwohner unmittelbar greifbar. Im interkantonalen Vergleich war Appenzell Innerrhoden bis ca. 1992 unter den ärmsten Kantonen zu finden.

Hier einige Beispiele aus Zeitzeugen-Interviews:

Arme Familien, bettelnde Kinder, eine schlechte gesundheitliche Versorgung und hohe Arbeitslosigkeit gehörten zum Alltag. Eine leichte Besserung trat erst mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ein. Der Sold aus dem Militärdienst und Aufträge der Armee (Sattler, Schneider, Schuhmacher) brachten etwas Geld ins Land.

Ärzte und Zahnärzte waren für viele Einwohner zu teuer. Ein Zahn ohne Spritze ziehen kostete z.B. CHF 1.-, mit Spritze CHF 2.-. Viele entschieden sich aus Kostengründen für Variante 1. Naturmedizin und Hömoopathie waren weit verbreitet.

Das ‚Lunggenmues‘ (Gstell und Gemüse) war für viele ein Lieblingsgericht. Selten stand Wurst oder rotes Fleisch im Angebot.

Es gab über ein Dutzend Dorf-Bäckereien, die alle ihre Spezialitäten anboten (Fladen, Süsswaren). Der Brotkonsum war sehr gross.

Mehr als 30 Schneider und Schneiderinnen haben für wenig Geld Kleider angefertigt. Konfektionskleider waren wenig bekannt. Viele besassen nur wenig Kleider: ein Kleidungsstück für den Sonntag und ein, zwei Arbeitskleider.

In Appenzell der Dreissiger Jahre haben einzelne Handwerker zusammen mit Bodenbesitzern Häuser gebaut. Dabei wurde eine Art Schwundgeld (Vorläufer von WIR) verwendet. Die Schwundgeld-Wirtschaft war bei wenigen bekannt (siehe Silvio Gesell und Wörgler-Schwundgeldversuch).

Die Spar- und Kreditbank-Pleite und Totalverluste aus Spekulationen im Zusammenhang mit dem Schwedischen Zündholzbaron Ivar Kreuger, hinterliessen ihre Spuren in den Budgets verschiedener Einheimischer. Ersparnisse gingen dabei fast gänzlich verloren. Das Kartenspiel mit dem Einsatz des eigenen Hauses oder des ganzen Hofes hatte in Einzelfällen einschneidende Folgen für einzelne Familien. Es scheint, dass eine ganze Reihe von Unternehmern mit hohen Beträgen regelmässig Karten gespielt haben. Zwei illegale Spielorte waren bei einigen Interviewpartnern bekannt.

An vielen schulfreien Tagen eine Anzahl von Kindern aus dem Ried mit Leiterwagen unterwegs, im Flussbett des Weissbachs Holz für den Winter zu sammeln.

Alpenrosen verkaufen, für Touristen Bilder malen, Weinberg-Schnecken sammeln, Eis schnitzen für Tischdekorationen für das Kurhaus Weissbad und viele Tagelöhner-Arbeitsverhältnisse gehörten zu prekären Beschäftigungen.

Das Hand-Sticken und Kinderarbeit waren weit verbreitet. Die Aufträge waren wegen der Krise stark reduziert.

Kinder-Verdingverhältnisse waren bei verarmten Familien keine Seltenheit. Dabei wurde oft auch von Amtes wegen entschieden. Nach einem schweren Unfall des Vaters, der ein eigenes kleines Häuschen besass, wurden zwei Kinder in die Steig gegeben. Die Mutter mit dem neugeborenen Kind musste als Magd im Thurgau auf einem Hof arbeiten. Das Haus wurde verkauft.

Anlässe

2005 Appenzell: Mittelalter‑Spektakel, Ausstellung der Schreibstube und Pergamentherstellung
2008 Stiftsbibliothek St.Gallen: Ausstellung: Pergamentherstellung (Museumsnacht)
2009 Stiftsarchiv St.Gallen: Ausstellung der Schreibstube
2016 Schloss Messkirch (D): Ausstellung mittelalterlicher Handschriften (Dr. Roland Specker)
2020 Raum Vorarlberg (A): Wanderausstellung: Pergamentherstellung und Schreibstube an verschiedenen Ausstellungsorten; Vermittlung Stiftsarchiv St.Gallen